Gedichte von den fünf Sinnen

Gedicht von den Gefühlen

Reich der Gefühle, seltsam ohnemaßen,
Bezirk der Nerven, offne Seelenflur,
Zeit schwingt und Raum um deine weiten Straßen,
erfüllt vom Schauer wirkender Natur.

Vom Echten und Lebendigen durchdrungen,
erfahren wir in Tiefen und in Höhn,
in Gegenwart und in Erinnerungen,
was gut und böse, was entstellt und schön.

Wir fühlen Leicht und Schweres, Frost und Hitze,
das Glatte, Rauhe, Stumpfes wie den Dorn,
des Windes Laune, das Bedrohn der Blitze,
Unmut und Groll und lichterlohen Zorn.

Wir weisen ab und werden angesprochen,
empfinden Hunger, Durst und Müdesein.
Zu tausend Zielen sind wir aufgebrochen
in Sehnsucht, Hoffnung und in Zweifelspein.

 

Wir kennen Ungewißheit und Verzagen,
wir kennen Leid und Schmerzen mannigfalt
und spüren in der Kraft, sie zu ertragen,
die läuternde und lösende Gewalt.

Sei es auch nur, daß uns ein Lied von ferne
mit einem leisen Hauch der Freude streift :
dem Irdischen verbürgen sich die Sterne,
obgleich die Nacht an seine Seele greift.

Im Wunsch, daß Liebe unter uns verweile,
erstreben wir des Lebens besten Wert,
voll Unruh, wenn sie sich zum Gegenteile,
zu Haß und Neid und Eifersucht verkehrt.

Denn es ist nichts so trostlos wie die Reue,
die alle Spiegel der Gefühle trübt,
und nichts beglückend wie das Glück der Treue,
dem Schöpfer dankbar, der sie selber übt. 

aus der Reihe : "Gedichte von den fünf Sinnen"
Versband: "Bild und Klang"

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