Nur ein Baum

Als man mich pflanzte,mir gute Erde und frisches Wasser gab,
damit ich mich entwickeln konnte - und das inmitten eines
Kinderspielplatzes - dachte ich : hier kannst du leben!
Hier kannst du atmen und durch deinen Sauerstoff mit da-
zu beitragen, die jungen Menschenkinder froh und glücklich
zu machen. Fünf Jahre hatte ich mich nicht getäuscht. Meine
Äste und Zweige wuchsen, meine Blüten verströmten den Duft
aller Akazien, die im Frühjahr so herrlich blühen.
Ich freute mich über so manchen Kinderlaut, der durch mein
Geäst bis in meinen Wipfel zu mir heraufdrang und über das
Werden derer, die unter mir spielten, auch wenn es manch -
mal sehr lautstark war und die Abgase der Mofas und Mopeds
der Halbwüchsigen mir oft den Atem nahmen.
"Sie sind noch jung und haben sicher schlechte Vorbilder ",
sagte ich zu ihrer Entschuldigung ... bis vor einigen Tagen
einige von ihnen meine Äste erklommen, Messer aus ihren
Taschen hervorholten und mir die schönsten Zweige inmitten
meiner Krone einfach abhackten, sodass ich - weil ich ja
nicht schreien konnte - nur stumm mein Schicksal erdulden
mußte.
Mir kamen dabei mancherlei Gedanken: an die Erlebnisse
der Kriegsgefangenschaft der Menschen, und die Folterungen
ihrer Peiniger in den Konzentrationslagern, wie ich es, durch
den Wind herübergetragen, von meinen Brüdern, den mächtigen
Parkbäumen hörte, welche die Gespräche der Alten, wenn sie
unter ihnen Skat oder Schach spielten, in ihren starken Stämmen
bewahrten.
Hier, geschützt  vom Viereck der umstehenden Häuser,
glaubte ich an den Segen des Himmels, der mir Wasser, Sonne,
Licht und Schatten gab bis ... ja bis zu diesem schrecklichen
Tag.- 

 


Mein erster Gedanke war: "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht
was sie tun!", doch dann wurde mir bewußt, dass die Menschen
für solche Missetaten auch Strafen vorsehen, aber:. Wo kein
Kläger ist, da ist auch kein Richter und wo kein gutes Vorbild ist, da
herrscht oft das Chaos!
Meine Blätter werden gelb und welk, lange vor der von der
Natur bestimmten Zeit. Ich sehe hinunter zu den sterbenden
Zweigen ... aber das Schlimmste ist, dass diejenigen, die mich
noch gestern langsam mordeten, heute wieder unter mir spielen,
sich freuen, lachen und - vielleicht schon die nächsten abscheu-
lichen Pläne in ihren Herzen tragen.
Dabei sind es Kinder und Jugendliche, mir seit Jahren bekannt
und in ihrem Wesen vertraut, die auch einmal Kinder haben
werden. Was wollen sie ihnen sagen? Hätten sie überhaupt eine
entschuldbare Erklärung? Oft scheint es mir, als seien ihre Eltern
die wirklichen Schuldigen, die verlernten, sich mit ihnen sinnvoll
zu beschäftigen und ihnen die unbeschwerte Fröhlichkeit der
Herzen zu vermitteln aus denen keine schlechten Werke kommen
können. Ja, mir wird es in vielen beobachteten Fällen zur trau-
igen Gewissheit: ihre Eltern sind froh, wenn sie ihre Kinder einmal
recht fern von sich wissen, weil sie selbst verlernten, miteinander
zu reden und nach gutem Gewissen zu handeln!
So kann ich nur hoffen, dass meinen umstehenden Brüdern und
allen Brüdern und Schwestern in der Welt nichts Gleiches durch
Kinderhände geschieht. Manchmal fühle ich mich als Mahnmal,
wenn ein alter Mensch zu mir heraufschaut, meine Wunden betrachtet
und gedankenvoll sein Haupt schüttelt .Oft stellt er sich  die Frage:
Warum tut der Mensch seiner besten Freundin, der Natur,
so etwas an?